MARGARET UND CHRISTINE WERTHEIM
Quelle: Frieder Burda Museum Baden-Baden
Wert und Wandel der Korallen
BADEN-BADEN
Nach dem Vorbild der lebendigen Riffe, denen sie nachstreben, haben die Schwestern ein kooperatives Installationswerk gestaltet, an dem über 20.000 Menschen in fünfzig Städten und Ländern mitwirkten. Kunst, Naturwissenschaft, Mathematik und gemeinschaftliche Praxis kommen zur Synthese in einer Arbeit, in der die Möglichkeiten der Handarbeit ebenso reflektiert sind wie die verborgene Geschichte der Nutzung handwerklicher Techniken für die wissenschaftliche Darstellung.
Das 2019 auf der Biennale in Venedig ausgestellte Crochet Coral Reef (Häkelkorallenriff) der Schwestern ist jetzt Gegenstand einer alle Räume umfassenden Ausstellung im Museum Frieder Burda. Im Erdgeschoss befinden sich mehrere 2005 begonnene Werke, in die Häkelarbeiten einer kunsthandwerklich erfahrenen Mitwirkendengruppe eingebunden sind. Hier begegnen wir einem riesigen Forstgebiet aus Korallenwäldern (erzeugt aus Garn, Videoband, Lametta und anderen Abfällen), einem Ausgebleichten Riff, einem ganz aus Plastik bestehenden Toxischen Riff, Pod Worlds, eine Sammlung von Miniaturkorallenwelten, aber auch eigens für diese Ausstellung entstandenen neuen Skulpturen, darunter ein großformatiges besticktes Mustertuch, das den Projektmitwirkenden und der weiblichen Hausarbeit Hommage erweist.
Neben Riffen der Wertheims umfasst das Projekt auch von Bewohnern vieler Länder geschaffene Satellitenriffe. Für das Museum Frieder Burda verwandelt ein neues Baden-Baden Satellite Reef das Obergeschoss in eine kaleidoskopische Unterwasserwelt. Mit mehr als 40.000 Korallenbeiträgen, gefertigt von 4.000 Mitwirkenden in Deutschland und andernorts, ist dies das bei weitem größte Satellite Reef. In ganz Deutschland kamen Menschen zusammen, um zu häkeln und auf die Krise aufmerksam zu machen, die sich in den Weltmeeren ausbreitet. Mit großem Einsatz hat im Museum ein Team unter Anleitung von Margaret und Christine Wertheim diesen wollenen Strom zu einer Reihe dreidimensionaler Koralleninseln und einer großangelegten Wandinstallation ausgestaltet.
Auch eine mathematische Dimension steckt in dem Projekt, denn viele bei Meeresorganismen und ihren gehäkelten Geschwistern anzutreffende Rüschenformen fußen auf der hyperbolischen Geometrie, die gegenüber der euklidischen Spielart, die wir üblicherweise lernen, eine andere Auffassung eröffnet. Das Crochet Coral Reef kann deshalb auch als eine Übung in angewandter Mathematik gesehen werden, bei der Handarbeit mit geometrischer Forschung verschmilzt.
Gleichzeitig veranschaulicht das Projekt Parallelen zwischen biologischer und sozialer Evolution. Denn im Prozess des Korallenhäkelns werden alle Schaffenden Teil eines umfassenden Ganzen, analog zu den einzelnen Polypen lebendiger Riffe, die miteinander kollektive Formen hervorbringen, in denen die Grenzen zwischen dem „Individuellen“ und dem „Gemeinschaftlichen“ verschwimmen. Kooperativ, figurativ, materiell, konzeptuell, künstlerisch, wissenschaftlich, feministisch und spielerisch, bringt uns das Crochet Coral Reef die Realität zu Bewusstsein, dass das Leben auf Erden nichts ist, wenn es nicht ineinandergreift.